Warum moderne Hundearbeit tiefer schaut…
Kennst du diese Reels und Videos, in denen Hunde geschubst, gerammt oder auf den Rücken gedrückt werden, weil sie „nicht hören“ oder „Problemverhalten zeigen“?
Da wird mit alten, dominanzgeprägten Methoden gearbeitet – festhalten, runterdrücken, blockieren – und das Ganze als angeblich notwendige „Konsequenz“ verkauft. Leider werden solche Videos tausendfach gefeiert, von Trainern, die sich inszenieren als die Einzigen, die mit „solchen Hunden“ klarkommen. Und von Zuschauern, die nicht wissen, was da eigentlich wirklich passiert.
Doch die Wahrheit ist:
So arbeitet man heute nicht mehr – und so sollte auch niemand mit deinem Hund umgehen.
Wenn ein Hund bellt, an der Leine zieht, Dinge zerstört oder plötzlich nicht mehr „funktioniert“ wie gewohnt, ist der erste Impuls vieler Menschen: „Wie bekomme ich das weg?“ Doch genau hier liegt der Denkfehler.
Denn das, was wir sehen – das gezeigte Verhalten – ist nur die Spitze des Eisbergs.
Darunter, im Verborgenen, liegen unzählige Einflussfaktoren, Emotionen und Bedürfnisse, die auf dieses Verhalten einzahlen.
Wenn wir lernen, diese „unsichtbare Seite“ zu erkennen und zu verstehen, können wir nicht nur Probleme nachhaltiger lösen – wir bauen auch eine tiefere Verbindung zu unserem Hund auf.
Verhalten entsteht nie im luftleeren Raum. Was wir sehen, ist ein Resultat innerer und äusserer Zustände:
Diese Mischung ergibt das, was aussen sichtbar wird.
Und oft: je stärker Erregung und/oder Emotion, desto intensiver das Verhalten.
Beispiel:
Ein Hund, der bei Hundebegegnungen plötzlich bellt und zieht, tut das möglicherweise nicht, weil er „dominant“ ist – sondern weil er aufgeregt, frustriert oder überfordert ist. Vielleicht hat er schlechte Erfahrungen gemacht oder kennt keine Strategien, um sich anders mitzuteilen.
Was im Verhalten sichtbar wird, ist nur ein winziger Teil dessen, was wirklich in Bewegung ist.
Unterhalb der Wasseroberfläche, also hinter dem gezeigten Verhalten, liegt beim Hund eine ganze Welt von Einflüssen und die eigentliche Komplexität.
Hier einige der wichtigsten Einflussfaktoren, die oft unbemerkt bleiben:
Körper, Schmerzen & Verspannungen
Ein kranker oder verspannter Körper verhält sich anders – das gilt auch für Hunde. Schmerzen, Entzündungen oder organische Probleme (wie z. B. an Schilddrüse, Magen-Darm oder Bewegungsapparat) wirken sich oft direkt auf das Verhalten aus. Häufig zeigt sich das in Form von Aggression, Rückzug oder plötzlich „unerklärlichem“ Bellen. Leider wird schmerzbedingtes Verhalten noch immer oft übersehen – dabei ist ein schmerzfreier Hund meist auch ein deutlich ausgeglichenerer Hund. Schmerzen sind oft der Hauptgrund für unerwünschtes Verhalten!
Hormonelle Zustände
Hormone beeinflussen Verhalten. Das gilt bei Hündinnen während der Läufigkeit, Scheinträchtigkeit oder bei hormonellen Ungleichgewichten (z. B. durch Kastration). Auch bei Rüden können Testosteron und Stresshormone Verhalten wie Markieren, Revierverhalten oder Unruhe verstärken.
Ernährung
Was im Napf landet, hat Einfluss auf Körper und Verhalten. Ein unausgewogenes Futter kann das Energielevel verändern, die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen oder zu Reizbarkeit führen. Auch Unverträglichkeiten oder ein dauerhaft überfüllter oder leerer Magen können Stress im Körper erzeugen – und der zeigt sich oft im Aussen.
Aktivität & Bewegung
Hunde brauchen Beschäftigung – aber angepasst an ihr individuelles Bedürfnis, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit. Nicht jeder Hund möchte joggen oder am Fahrrad mitlaufen (übrigens in Österreich sogar verboten), und nicht jeder braucht tägliche Action.
Zu viel Reizüberflutung oder falsch verstandene „Auslastung“ gehören – genauso wie Schmerzen – zu den häufigsten Ursachen für sogenanntes „Problemverhalten“.
Würden mehr Menschen die echten Bedürfnisse ihres eigenen Hundes erkennen und respektieren, bräuchte es viel weniger „Hundetrainer“, die eigentlich den Menschen trainieren. Entscheidend ist die Balance: Es geht nicht um viel – sondern um passend.
Schlaf & Ruhe
Und ebenso wichtig: Ruhe als Bedürfnis ernst nehmen.
Viele Hunde bekommen zu wenig echte Erholung – dabei ist Schlaf und Rückzug genauso entscheidend wie Bewegung. Denn nur ein Hund, der wirklich zur Ruhe kommen darf, kann auch ausgeglichen und belastbar sein.
Hunde brauchen deutlich mehr Schlaf, als viele denken – bis zu 18–20 Stunden Schlaf- und Ruhezeit täglich, je nach Alter und Typ. Zu wenig Schlaf oder ständige Unterbrechungen senken die Frustrationstoleranz, erhöhen das Stresslevel und machen Hunde schneller gereizt oder überdreht.
Emotionale Zustände wie Angst oder Frust
Hunde sind emotionale Wesen. Angst (vor Geräuschen, Menschen, alleine sein, anderen Hunden…) oder Frust (z. B. durch ständige Einschränkungen, unnötige Übungen zur Frustrationstoleranz oder Impulskontrolle, fehlende Belohnungen) machen sich deutlich bemerkbar – oft durch Bellen, Knurren, Rückzug oder überdrehte Energie, die sich in anderen Situationen plötzlich entlädt.
Auch Ressourcenverteidigung – also das Verteidigen von Futter, Spielzeug, Liegeplätzen oder sogar Bezugspersonen – hat meist emotionale Ursachen: Unsicherheit, Kontrollverlust oder die Angst, etwas Wertvolles zu verlieren. Emotionen sind die „Sprache hinter dem Verhalten“.
Vergangene Erfahrungen & Traumata
Hunde erinnern sich. Schlechte Erfahrungen, plötzliche Erlebnisse oder chronische Überforderung prägen Reaktionen. Was heute wie eine „Unart“ aussieht, kann die Folge von alten Mustern oder Schutzverhalten sein. Besonders bei Tierschutzhunden ist es wichtig, mit der Vergangenheit zu arbeiten – nicht dagegen.
Genetik, Epigenetik, Alter, Entwicklungsphasen
Ein Schäferhund verhält sich anders als ein Mops – das ist keine Bewertung, sondern Genetik. Rassemerkmale, individuelle Veranlagung, äussere Einflüsse in den Entwicklungsphasen bringen bestimmte Verhaltensweisen mit sich. Auch das Alter spielt eine Rolle: Junge Hunde probieren aus, ältere reagieren manchmal sensibler. Entwicklungsphasen wie die Pubertät können Verhaltensauffälligkeiten „plötzlich“ erklären.
Reizdichte im Alltag
Zu viele Eindrücke, zu wenig Struktur – das stresst. Manche Hunde leben in einem Umfeld, das sie permanent reizüberflutet: Lärm, Hektik, Kinder, Verkehr, Besuch, Hundehort, mitnehmen an den Arbeitsplatz, ständiges Training, Hundebegegnungen… Sie finden kaum zur Ruhe, sind ständig in Alarmbereitschaft. Das zeigt sich irgendwann im Verhalten – sei es durch Aggression, Unruhe, Dinge zerstören oder zusammenfressen oder auch Rückzug.
Der Umgang des Menschen – fair, überfordernd oder sogar aversiv?
Unsere eigene Haltung hat enormen Einfluss. Druck, Ungeduld, Strafen oder Missverständnisse bringen Hunde schnell aus dem Gleichgewicht. Ein unsicherer, nervöser oder inkonsequenter Mensch verunsichert auch den Hund. Umgekehrt wirkt Klarheit, Fairness, Empathie und Vertrauen fast wie ein „emotionales Fundament“ im Alltag.
Auch die Ausrüstung spielt eine wichtige Rolle
Nicht nur unser Verhalten, auch das, was wir dem Hund anziehen, wirkt auf sein Wohlbefinden. Halsband, Geschirr und Leine sind oft unterschätzte Faktoren – dabei beeinflussen sie unmittelbar, wie sicher, frei oder gestresst sich ein Hund fühlt. Im Winter kann auch mal ein Mäntelchen notwendig werden, denn Hunde sind mit ihrem Bauch viel näher am
eiskalten Boden als wir und Fell ist nicht gleich Fell.
Ausrüstung – passend, bequem & fair
Was dein Hund trägt, beeinflusst sein Verhalten. Ein gut sitzendes Geschirr (keine Schulterblockade!) ist immer die bessere Wahl als ein Halsband – wenn keine medizinisches Problem an der Wirbelsäule vorliegt. Lange Leinen (> 5m) geben Bewegungsfreiheit und helfen, Konflikte zu vermeiden, weil der Hund selbst Abstand wählen kann. Mit zu kurzen Leinen drücken wir Hunde oft in Situationen, die sie gar nicht möchten. Mit ein wenig Übung gelingt das überall – auch in der Stadt.
Finger weg von Stachel-, Strom- oder Vibrationshalsbändern!
Diese Mittel sind tierschutzwidrig, arbeiten mit Schmerz oder Angst – und haben im modernen Hundetraining nichts verloren. Gute Ausrüstung unterstützt – sie tut nicht weh.
In vielen Köpfen steckt noch immer die Idee: Wenn ein Hund „nicht funktioniert“, muss man das Verhalten schnellstmöglich abstellen – möglichst mit Nachdruck.
Doch diese Sichtweise ist längst überholt – und gefährlich.
Moderne Hundearbeit denkt anders. Sie sieht Verhalten nicht als Störung, sondern als Ausdruck eines inneren Zustands.
Sie fragt nicht nach dem Symptom – sie sucht die Ursache, denn Verhalten ist immer Kommunikation.
Gute Trainer:innen blockieren nicht – sie beobachten.
Statt den Hund zu unterbrechen, zu blockieren oder gar zu bestrafen, wird erstmal genau hingeschaut:
Beobachtung ist die Grundlage – nicht Bewertung.
Sie rammen nicht – sie fragen.
Ein Hund, der knurrt, zieht, bellt oder „nicht hört“, wird nicht konfrontiert, sondern verstanden:
Fragen zu stellen heißt: den Hund ernst zu nehmen – als fühlendes, denkendes Wesen mit Bedürfnissen.
Sie halten nicht fest – sie begleiten.
Statt zu kontrollieren, wird geführt – mit Empathie, Geduld und Wissen.
Das bedeutet:
Der Hund ist kein Gegner, der „in seine Schranken gewiesen“ werden muss, sondern ein Partner, der Orientierung sucht.
Nicht jedes Verhalten ist ein Problem.
Manchmal ist es einfach:
Was wir als „unerwünscht“ empfinden, ist oft ein hilfloser Versuch, mit einer Situation zurechtzukommen.
Und genau hier beginnt echtes Hundetraining: beim Verständnis, nicht bei der Korrektur.
Wenn dein Hund ein Verhalten zeigt, dass dich irritiert, stresst oder herausfordert, dann ist der erste Impuls oft: „Wie kriege ich das weg?“ Doch viel hilfreicher ist die Frage: „Warum zeigt er das überhaupt?“
Hier sind Gedanken und Ansätze, die dir helfen können, tiefer zu schauen – und deinen Hund besser zu verstehen:
Beobachte – ohne zu bewerten
Verhalten ist immer Kommunikation.
Schau genau hin: Was passiert vorher? Was danach? In welcher Intensität? Wie wirkt dein Hund körperlich und emotional? Wie geht es dir selbst in der Situation?
Das Ziel ist nicht, zu urteilen – sondern zu verstehen.
Denke an den Eisberg
Frage dich: Welche unsichtbaren Faktoren könnten gerade mitschwingen?
Vielleicht hat dein Hund Schmerzen, ist gestresst, müde oder überfordert. Was war los in letzter Zeit? Oft liegt der Schlüssel unter der Oberfläche – nicht im sichtbaren Verhalten.
Hol dir Unterstützung
Du musst nicht alles allein herausfinden.
Ein positivarbeitender Hundetrainer oder Verhaltenstherapeut kann helfen, Ursachen aufzudecken – fair, einfühlsam und individuell. Auch tierärztliche Abklärung (z. B. bei Verdacht auf Schmerzen) kann sinnvoll sein.
Arbeite beziehungsorientiert – nicht symptomorientiert
Statt Verhalten einfach „wegtrainieren“ zu wollen, lohnt sich ein anderer Weg: Was braucht mein Hund in diesem Moment?
Schenke ihm Sicherheit, Orientierung und emotionale Unterstützung – nicht Kontrolle oder Druck.
Sorge für Sicherheit, Ruhe und Struktur
Ein verlässlicher Alltag, Rückzugsorte, ruhige Phasen und klare Abläufe helfen deinem Hund, runterzufahren. Faire Grenzen durch Leitplanken können auch ruhig und konsequent gestaltet werden, sie geben Vertrauen und Sicherheit.
Denn ein Hund, der sich sicher fühlt, zeigt automatisch weniger Stressverhalten.
Gib euch Zeit – und vertrau deinem Gefühl
Es gibt selten schnelle Lösungen. Aber viele gute Wege. Vertrau deinem Bauchgefühl – du kennst deinen Hund.
Und achte darauf, wem du dich und ihn anvertraust:
Laut und körperlich ist nicht gleich richtig. Empathie ist leise – aber stark.
Bei all den Gedanken zu Verhalten, Ursachen, Management und Training dürfen wir eines nicht vergessen:
Hunde sind keine Dauerbaustellen und keine Maschinen, die man repariert, wenn sie „nicht funktionieren“.
Sie sind feinfühlige, einzigartige Gefährten, die das Leben mit uns teilen – mit eigenen Bedürfnissen, Persönlichkeiten und kleinen Eigenheiten. Sie wollen schnüffeln, spielen, entdecken, sich sicher fühlen - nicht perfekt funktionieren, sondern echt Hund sein dürfen.
Und genau das sollten wir ihnen jeden Tag ermöglichen, darin liegt ihre Schönheit – und unsere Verantwortung. Würden diese Dinge viel mehr berücksichtigt, was Hundedinge wirklich sind, wären viele Hundetrainer arbeitslos.
Ich liebe den Gedanken:
"Nicht der Hund begleitet mich beim Spazierengehen – sondern ich begleite ihn."
Es ist seine Zeit, in der er sich entfalten darf, entdecken kann, zur Ruhe kommt – oder einfach glücklich ist. Und wenn wir das bewusst zulassen, entsteht echte Quality Time: für den Hund und für uns.
Bedürfnisbefriedigung bedeutet nicht nur „Problemverhalten verhindern“, sondern auch der Moment im Hier und Jetzt zu sein:
✨ Freude zulassen
✨ Freiheit ermöglichen
✨ gemeinsam geniessen
✨ Routine, die Sicherheit gibt
✨ Ruhe, die das Nervensystem entlastet
✨ Raum und Zeit geben, um sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln zu dürfen
Veränderung braucht Geduld, Entwicklung braucht Vertrauen. Und Lebensfreude entsteht dort, wo Bedürfnisse erkannt und respektiert werden – nicht nur die offensichtlichen, sondern auch die leisen.
Manchmal ist das Wichtigste, was wir für unsere Hunde tun können:
Ihnen Zeit, Raum und Liebe zu schenken, um sie ganz sie selbst sein zu lassen!
Es ist an der Zeit, dass wir Menschen wieder zurückfinden – zur Einfachheit, zur Verbundenheit, zur Fähigkeit, die Welt durch die Augen unserer Hunde zu sehen - Weg von ständiger Kontrolle, Bewertung und Perfektion - Hin zu Verständnis, Beobachtung und echter Liebe – zu ihnen, aber auch zu uns selbst.
Denn in der Beziehung zu unseren Hunden liegt etwas ganz Besonderes: die Erinnerung daran, wie viel Kraft in Ruhe, Vertrauen und echtem Miteinander steckt.
Wenn wir bereit sind, Verhalten nicht nur zu sehen, sondern zu hinterfragen, entsteht etwas Kostbares:
Verbindung – Verständnis – Vertrauen – Sicherheit - Liebe
Es ist nicht schlimm, sich Hilfe zu holen. Das haben wir auch gemacht, als unser Milo plötzlich meinen Mann gebissen hatte und anfing zu jagen. Ich weiss also genau, wie sich das anfühlt.
Aber es war auch der Beginn einer wunderbaren Reise für uns alle...
Bleib neugierig. Bleib offen.
Geh den Weg MIT deinem Hund – nicht gegen ihn!
Fellige Grüsse, Verena